12.04.2021 |
Wie ein mutiges 12-jähriges Mädchen der Zwangsheirat entkam
Yerosen* schaudert es jedes mal, wenn sie an diesen Tag im Mai 2020 zurückdenkt. Obwohl sie versucht, die drei Monate, die sie in den Händen ihres Entführers verbracht hatte, zu vergessen, verfolgt sie der Albtraum noch immer.
Dass Mädchen im Teenageralter entführt und dann zwangsverheiratet werden, ist seit langem ein Brauch im ländlichen Äthiopien. Die Regierung stellte diese Praktik im 2020 unter Strafe und hob das Mindestalter für die Heirat von 15 auf 18 Jahre an. Die Zahl der Fälle ist seither zwar zurückgegangen, aber in einigen Regionen geschieht es immer noch.
EINE SCHRECKLICHE TRADITION
An jenem Tag im Mai 2020 bot eine Frau aus ihrem Dorf Yerosen an, sie auf ihrem Motorrad mitzunehmen. Das Mädchen überlegte nicht lange und stieg auf. „Ich hatte nie den Verdacht, dass sie mir etwas antun wollte, bis sie mit dem Motorrad auf einen Feldweg abbog“, erinnert sie sich. Dann wurde sie in einer Hütte eingesperrt und mit Gewalt bedroht, wenn sie versuchte zu fliehen. Nun war es für Yerosen klar, was sie erwartete.
„Ich hatte schreckliche Angst. Ich habe so sehr geweint“, erzählt sie. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal zu den Mädchen gehören würde, deren schreckliche Geschichten ich gehört hatte.“
In der darauf folgenden Nacht begegnete Yerosen dem Mann, der ihre Entführung mit Hilfe ihrer Schwester arrangiert hatte. Er war 35 Jahre alt, fast dreimal so alt wie sie selbst.
DIE LOKALE KIRCHE GREIFT EIN
Am nächsten Tag erreichte die Nachricht von Yerosens Verschwinden das Compassion-Kinderzentrum, in dem sie seit ihrem sechsten Lebensjahr als Patenkind unterstützt wurde.
„Das war die schlimmste Nachricht, die ich je erhalten habe“, sagt Abdi, der Leiter des Zentrums. „Ich war wütend, dass ein solches Verbrechen gegen eines der Kinder in unserem Patenschaftsprogramm begangen wurde. Ich habe geschworen, alles zu tun, was ich kann, um Yerosen zurückzubekommen und dafür zu sorgen, dass sie Gerechtigkeit bekommt.“
Abdi kontaktierte die Polizei, die eine Fahndung nach Yerosens Entführern einleitete. Sofort trafen sich die Leiter der Kirche mit Mitarbeitenden des Kinderzentrums und weiteren Helfern, um für Yerosen und ihre Rettung zu beten. Der Pastor, Abdi und auch Yerosens Grossvater beteiligten sich an der Suche nach ihr.
Die Entführer des Mädchens hatten Informanten, die sie über die Suchaktion auf dem Laufenden hielten. So wurde Yerosen von einem Ort zum anderen gebracht. Jeder weitere Ortswechsel war auch ein Rückschlag für die Hoffnung auf ihre Freilassung.
MUT INMITTEN DER ANGST
Sterbend vor Angst entschloss sich Yerosen trotzdem zum Widerstand: „Wenn du versuchst, mich zu berühren oder mich mit Gewalt zu heiraten, werde ich schreien, so laut ich kann!“ – Nacht für Nacht versuchte sie, wach zu bleiben, um nicht plötzlich überfallen zu werden.
Eines Abends erinnerte sich das Mädchen an den Ratschlag, den sie im Compassion-Kinderzentrum gehört hatte.
„Uns wurde gesagt, wir sollen beten, wenn wir in Gefahr sind. Ich betete zu Gott, mich von meinem Entführer zu befreien und sie davon abzuhalten, mir etwas Böses anzutun. Das betete ich jeden Tag und von ganzem Herzen.“
Auch in ihrem Dorf beteten die Gläubigen für Yerosens Befreiung. Die Suche ging weiter, aber die Hoffnung, das Mädchen unversehrt zu finden, schwand jeden Tag ein wenig mehr. Ihr Grossvater hatte inzwischen dem Drängen der Dorfältesten nachgegeben, eine Mitgift zu akzeptieren und dieser Ehe seinen Segen zu geben.
Abdi, der für das Compassion-Kinderzentrum verantwortlich ist, gab jedoch nicht auf. Er scheute keine Mühe um herauszufinden, wo sie gefangen gehalten werden könnte. Und eines Tages, drei Monate nach Yerosens Entführung, klingelte Abdis Telefon. Als er die zitternde Stimme des jungen Mädchens hörte, brach er in Tränen aus.
DER MUT EINES JUNGEN MÄDCHENS
Eine Woche zuvor hatten die Entführer Yerosen an einen geheimen Ort in ihrem Dorf gebracht. „Sie waren damit beschäftigt, die Hochzeit vorzubereiten“, erzählt sie. „Ich habe auf den Moment gewartet, in dem ich fliehen konnte. Ich war bereit, das Risiko einzugehen.“
Yerosen konnte sich ein Telefon schnappen und suchte sich ein Versteck zum Telefonieren. Sie hat nicht die Polizei gerufen. Sie hat auch nicht ihren Grossvater angerufen. Sie rief den Leiter des Kinderzentrums an. „Ich wusste, dass er mich retten würde.“
EIN PLAN
Gemeinsam schmiedeten sie einen Plan für ihre Flucht. Am nächsten Tag gelang es ihr, sich von ihren Entführern abzusetzen. Abdi holte sie am vereinbarten Ort ab und brachte sie zur Polizei und dann ins Krankenhaus zur Untersuchung.
Compassion arrangierte dann die Verlegung des Mädchens in ein Krankenhaus in Addis Abeba. Sie lebt jetzt in einem Heim, das von einem liebevollen und fürsorglichen Ehepaar geführt wird. „Es war wichtig, dass wir sie aus diesem Dorf wegbringen, da die Entführer versucht hätten, sie zurückzuholen. Wir verfolgen die Situation mit der Polizei weiter und hoffen, dass die Gerechtigkeit siegen wird.“
Yerosen träumt davon, eines Tages Polizistin zu werden, um Mädchen zu retten, die gleiche Torturen durchmachen.
* Der Name wurde geändert, um die Identität des Mädchens zu schützen.