Der Kampf des Vergebens
Es war eine Erleichterung, wenn ihr Vater mal nicht auftauchte. Ohne ihn hatte die Familie Schwierigkeiten, für ihre Bedürfnisse aufzukommen, aber sie waren in Sicherheit. Doch er kehrte auch oft mit leeren Händen zurück – und an den Tagen lauerte die Gewalt vor der Tür.
Und dann eines Tags kam er nicht mehr zurück.
Für ihre Mutter war es allein ein Kampf, ihre Familie ausreichend zu versorgen. Der Schatten des Hungers folgte Justine überall hin.
„Als ich in der Grundschule war, ging ich nach Hause zum Mittagessen, aber dort gab es nichts“, erzählt Justine. „Meine Mutter sagte, wir sollen zu Hause bleiben und nicht das Essen der Nachbarn essen. Es war sehr herausfordernd für mich. Ich war jung und hungerte.“
Ihre Mutter betrauerte den Verlust ihres kleinen Sohnes und kämpfte damit, dass ihr Mann sie verlassen hatte. Sie war kurz davor, aufzugeben. Trotz ihres eigenen Schmerzes schaffte sie es, weiter für ihre Familie zu kämpfen. „Ich war verletzt. Du möchtest nicht, dass deine Kinder nichts zu essen haben. Es war eine schwierige Zeit, aber es gab keine Lösung. Ich habe durchgehalten, weil ich sonst niemanden hatte, den ich um Hilfe bitten konnte“, erzählt Justines Mutter.
Schließlich schickte sie Justine zu einer befreundeten Familie, nur damit das Mädchen eine tägliche Mahlzeit bekam. Es war eine Entscheidung aus Verzweiflung, aber eine dauerhafte Lösung war in Sicht.
Ein gewaltiger Unterschied
So wie Justines Familie und viele andere floh Pastor Paul nach Ruanda, als ein Konflikt ihr Heimatland Uganda heimsuchte. Als er seiner Gemeinde diente, sah er die Schwierigkeiten, mit denen so viele konfrontiert waren. Lebensmittel waren knapp. Bildung war unerreichbar. Die Wohnverhältnisse waren prekär, und es herrschte das Gefühl, dass das Leben einem in jedem Moment entrissen werden konnte.
Justines Familie war in einer besonders schwierigen Situation. „Du konntest sehen, dass sie in Not sind“, erzählt Pastor Paul. „Ihr Zuhause war in einem sehr schlechten Zustand. Justines Mutter kämpfte mit dem Leben an sich, um ihre Kinder großzuziehen. Sie hatten nichts, vorauf sie sich verlassen konnten.“
Pastor Paul wusste aber, dass seine Kirche mit Compassion zusammenarbeitet und dass das einen großen Unterschied für Justine und ihre Familie machen würde. Er lud Justines Mutter ein, ihre Tochter im Compassion-Kinderzentrum anzumelden. Sie spürten die positiven Auswirkungen sofort.
Justine hatte den festen Entschluss gefasst, ihre Chance zu nutzen, für ein besseres Leben. Obwohl sie die öffentliche Schule besuchte, stellte das Schulgeld oft eine Hürde dar. Mit der Unterstützung des Compassion-Kinderzentrums konnte sie sich wieder voll auf den Unterricht konzentrieren.
„Compassion hat ihr den Zugang zu Schulbildung ermöglicht, sie bei der medizinischen Versorgung unterstützt, wenn sie krank war. Justine war eine gute Schülerin, sie war sehr klug“, sagt Pastor Paul.
„Ich danke Gott, dass ich die christlichen Werte kennenlernen konnte und mein Leben Jesus gegeben habe. Ich habe eine Familie und Freunde bekommen. Auch jetzt stehe ich noch in Kontakt mit den Leuten, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich meine es so, wenn ich sage, dass Compassion meine Familie ist.“
Bildung ist der Schlüssel
Von Hunger befreit und mit der Unterstützung, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren, ist Justine aufgeblüht. Schon in jungen Jahren wusste sie, dass Bildung grundlegend ist. „Bildung ist der Schlüssel. Wenn du gebildet bist, passieren viele Dinge in deinem Leben“, erzählt Justine. Sie schloss die Grundschule ab und durchlief die Sekundarschule wie im Flug – aber das war noch nicht das Ende. „Ich machte meinen Bachelor in Business Administration. Derzeit mache ich ein Postgraduierten-Diplom in Bildungswissenschaften.“
Auf ihrem Weg schloss sie schnell Freundschaften und stellte unter Beweis, dass sie Führungsqualitäten besitzt, die andere ermutigen.
Neben ihrem Studium begann sie, mit der Nonprofit-Organisation Edify zusammenarbeiten, die sich darauf konzentriert, benachteiligten Jugendlichen den Zugang zu christusorientierter Bildung zu ermöglichen. Gott führte so viele Stränge ihres Lebens zusammen, dass Justine wusste, dass Gott etwas Tolles vorhat.
Justines Mutter bewunderte die Veränderung ihrer Tochter. „Es hat mir so viel Freude gemacht, meine Tochter zu sehen, wie sie mit Compassion aufwächst“, sagt sie. „Die Mitarbeiter förderten sie, und haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Es ist so eine Erleichterung und erfüllt mich mit Frieden.“
Eine Reise zur Vergebung
Während Justine von einem schüchternen und traumatisierten Mädchen zu einer selbstbewussten jungen Frau heranwuchs, fühlte es sich so an, als ob eine Wunde niemals heilen würde – den Schmerz, den ihr Vater zu verantworten hat.
Jahre später fand sie heraus, dass er andere Familien hatte und sich niemals entschuldigte oder den Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutmachte. Die Mitarbeiter des Kinderzentrums und Pastor Paul hörten sich ihre Geschichte an, fühlten mit ihr, beteten mit ihr und ermutigten sie zur Vergebung.
Ihr irdischer Vater hatte mehr Schaden als Gutes getan, aber sie wusste, dass ihr himmlischer Vater nur Gutes für sie wollte. „Ich würde sagen, dass Vergebung ein Prozess ist, aber als Christin, musste ich ihm vergeben“, erzählt sie. „Ich weiß, dass Gott mein Vater ist. Ich habe mich niemals allein gefühlt, weil ich eine persönliche Beziehung zu Jesus habe.“
Justine adoptierte mit ihrem Mann zwei Töchter und hat zwei leibliche Töchter. Ihr Wunsch, ihre Kinder anders zu erziehen, gab ihr die Kraft zu vergeben und die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Die dunklen Tage ihrer Kindheit liegen hinter ihr – und sie ist entschlossen, dass ihre Kinder ein zu Hause voller Licht und Leben haben, das von Liebe geprägt ist.
„Mein Mann und ich haben die gleiche Geschichte“, erzählt Justine mit einem Lächeln. „Er hat niemals Liebe von seinem Vater erfahren und ich nicht von meinem Vater. Unser Wunsch ist, ihnen Lieb in Fülle zu geben – die Liebe, die wir von unseren Vätern nie bekommen haben.“