Auf der Flucht
Als vor ihrem Haus die Schüsse zu hören waren, rannten die 11-jährige Carolie und ihre Zwillingsschwester Laurie, ohne zu zögern in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Ohne zu verstehen, was geschah, verbrachten sie die Nacht zusammengekauert unter dem Bett, verängstigt von den Kugeln, die draußen niederprasselten.
Es war eine lange Nacht. Als die Familie es wagte, vor die Haustür zu treten, hörten sie Schreie und Geräusche. Die ganze Nachbarschaft war in Aufruhr.
„Was ist letzte Nacht passiert?“, fragten sich einige Leute. „War es die Polizei?“
„Nein“, antworteten andere.
Banden, bewaffnet und rücksichtslos, hatten die ganzen Ort terrorisiert. Eine dicke Rauchwolke zog über uns auf.
„Unsere Häuser sind in Schutt und Asche gelegt. Unsere Autos sind zertrümmert und zerstört“, sagte ein Nachbar.
Menschen liefen in ihre Richtung. Bandenmitglieder zerrten Menschen aus ihren Häusern, richten sie hin und verbrannten alles, was sich ihnen in den Weg stellte.
„Was sollen wir tun?“, lautete die Frage.
„Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen gehen“, so Anel. Als Vater war es seine Verantwortung, seine Frau und seine Töchter zu beschützen.
„Aber wo sollen wir hin?“, fragte Nahomie, seine Frau.
Sie sahen sich an. So viele Fragen, aber kaum Antworten.
„Ich kenne einen Ort“, sagte Joseline, eine Nachbarin, die auf sie zu eilte. „Wir gehen jetzt – ich will hier nicht sterben.“
Joseline und ihre siebenköpfige Familie waren bereit zu fliehen. Sie machten Platz für Anel, Nahomie, Laurie und Carolie, damit alle ins Auto passten. Noch einige Stunden zuvor, wussten sie nicht, dass sie an diesem Morgen alles zurücklassen würden – ihre Betten, ihre Kleidung, ihre Habseligkeiten, ihre Zukunft.
Zusammengepfercht in einem Auto mit 10 anderen Leuten verließ Carolie ihr Zuhause, den Ort, den sie seit so vielen Jahren kannte. Schüsse hallten weiter in der Luft, als jeder in dieser Gegend versuchte, sein Leben zu retten.
Angst, Ungewissheit und vielen unbeantwortete Fragen prägten die lange Reise. Ihr Leben ihr wertvollster Besitz – da waren sie sich alle einig. Trotzdem: Es tat weh, alles hinter sich zu lassen.
Ein kompletter Neustart
„Hier sind wir: Wir haben es geschafft“, sagte Joseline schließlich.
Carolies Familie fand sich nach einer langen und beengten Fahrt in einer unbekannten Stadt im Süden des Landes wieder. Das Ausmaß ihrer neuen Realität wurde in schlagartig bewusst.
Sie fanden Unterschlupf. Die vierköpfige Familie zusammengepfercht in einem einzigen Schlafzimmer. Sie lebten mit Fremden unter einem Dach.
Carolie und ihre Schwester mussten es hinnehmen, ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich breit. „Es ist nicht unser Zuhause. Wir fühlen uns nicht wohl, wenn wir uns alle ein kleines Schlafzimmer teilen müssen. Zu Hause hatte jeder sein eigenes Zimmer. Ich vermisse mein Haus.“, beschwerte sich Carolie bei ihren Eltern. „Das ist jetzt unser Leben“, erwiderte Nahomie.
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Sie waren eine unabhängige Familie, die sich jetzt gezwungen sah, für die einfachsten Aufgaben auf die Erlaubnis anderer zu warten. Wenn Nahomie ein Essen für ihre Töchter zubereiten wollte, musste sie auf die Erlaubnis warten, die Küche zu benutzen. Der Mangel an Autonomie war erdrückend, eine ständige Erinnerung daran, dass ihr Leben nicht mehr ihr eigenes war.
Die Lebensgrundlage zu verlieren, traf Anel besonders hart. Verzweifelt war er auf der Suche nach Arbeit. Er sah, wie ihr gesamter Besitz verloren ging und seine Familie litt. Er fühlte sich machtlos.
„Ich hatte einen Job. Ich war Tischler. Jetzt kann ich nicht mehr für meine Familie sorgen“, sagte er. „Am Leben zu sein, ist besser als Besitz. Wir haben alles hinter uns gelassen, nicht einmal Wechselkleidung hatten wir. In diesem Moment wollten wir einfach nur am Leben bleiben.“
Auch für Nahomie war es schmerzhaft: „Ich war früher Krankenpflegerin. Jetzt kann ich nicht einmal meinen Kindern eine ordentliche Mahlzeit zubereiten“, klagte sie. „Die Mädchen essen fast jeden Tag Brotfrüchte. Es ist das Einzige, was wir uns leisten können“, fügte sie hinzu.
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Etwas zu essen zu finden, wurde zu einem Kampf. Die Zeiten, in denen sie zusammensaßen, um Hühnchen zu essen, waren lange vorbei. Die Mahlzeiten wurden nun improvisiert, ihre Belastbarkeit täglich auf die Probe gestellt. Der Blick in ihre Zukunft: ungewiss.
Unterstützung der lokalen Kirche
Die Nachricht, dass eine neue Familie in der Nachbarschaft wohnt, sprach sich schnell herum.
„Sie sind geflohen und hier gelandet“, murmelten die Menschen.
Als die Mitarbeiter des Kinderzentrums der lokalen Partnerkirche von Compassion am alten Wohnort herausfanden, wohin Carolies Familie gegangen war, verwiesen sie die an ein anderes Kinderzentrum in ihrer neuen Nachbarschaft. Etwa eine Stunde Fußmarsch von ihrem neuen Zuhause entfernt lag ein Ort, von dem sie wussten, dass sie dort um Unterstützung bitten können.
„Endlich ein bekannter Name in einem unbekannten Ort!“, sagte Carolies Vater.
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Wolton, der Direktor des Kinderzentrums, wollte Carolie und ihre Familie unterstützen und hieß sie mit offenen Armen willkommen. Die Kirche sah ihre Situation und wollte ihrer Not begegnen, in dem sie die unmittelbaren Bedürfnisse erfüllte, aber boten ihnen auch emotionale sowie psychologische Unterstützung an.
„Sie mussten daran erinnert werden, dass das Leben noch nicht vorbei war“, sagte Wolton.
Es dauerte nicht lange, bis die Zwillinge wieder zur Schule gingen. Carolie und Laurie begannen, neue Leute kennenzulernen und neue Freundschaften zu schließen. Langsam fühlten sie sich nicht mehr einsam.
Die Mitarbeiter des Kinderzentrums sahen, dass die Familie ganzheitliche Unterstützung brauchte, damit sie ihr Leben wieder neu aufbauen können. Ihnen wurde Bargeld für den Kauf von Lebensmitteln und der Gründung eines kleinen Unternehmens bereitgestellt, damit sie sich wieder selbstversorgen können.
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„Durch die Unterstützung des Kinderzentrums kann endlich wieder ein gutes Essen für meine Kinder kochen. Sie haben lange kein Hühnchen mehr gegessen“, erzählt Nahomie mit einem Lächeln ins Gesicht. Parallel dazu begann die lokale Partnerkirche, Carolie und Laurie in die Aktivitäten des Kinderzentrums miteinzubeziehen und ihre persönliche Entwicklung zu fördern.
Dass die Kirche in ihrer Not an ihrer Seite stand, zeigte ihnen, dass sie die Herausforderungen nicht allein bewältigen mussten. Die Mitarbeiter der Compassion-Partnerkirche und des Kinderzentrums begegneten Anel, Nahomie, Laurie und Carolie in Liebe und Fürsorge.
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